Überlängen im Ostfriesischen Platt

»Wenn ein Ostfriese spricht, verstehe ich garnichts.«

Dr. Marron Fort über Plattdeutschsprecher

In der Regel verstehen Plattdeutschsprecher Ostfriesisches Platt nur mühsam bis gar nicht. Andersrum gibt es da weniger Probleme; was ‘auch’ auf die hochdeutsche Bilingualität zurückzuführen sei. Der Ostfriese kann mit seiner Muttersprache auch so einiges aus dem Niederländischen verstehen. Sowas kommt bei verwandten Sprachen nun mal vor.

Ostfriesisches Platt unterscheidet sich vom Niederdeutschen durch eine Vielzahl an Sprachunterschieden: Das friesische Substrat findet sich in der Grammatik, der Aussprache sowie im Wortschatz wieder, während der Einfluss des Niederländischen im Bereich des Wortschatzes eine maßgebliche Rolle spielt und wiederum romanische Einflüsse in die Sprache brachte. Diese Sprachmerkmale erfordern manchmal eine kurze Erklärung, aber eine abweichende Grammatik und fremdsprachige Einflüsse lassen sich dennoch leicht erklären.

Die Menschen sind dazu veranlagt zu vergleichen. Man braucht also Vergleichsmaterial. In anderen Sprachen kommen zwar Überlängen vor, aber in den größeren europäischen Sprachen spielen sie keine bedeutende Rolle. Im Ostfriesischen Platt spielen sie dahingegen eine große und systematische Rolle. Was die Überlängen angeht gibt es für Anderssprachige kein Vergleichsmaterial und deswegen werden die Überlängen (ebenso wie die ostfriesischen Diphthongierungen bzw. Triphthonierungen) häufig als Zungenbrecher, übertriebene Aussprache oder als primitives Ostfriesengesabbel abgetan.

»Wir haben es bei der Überlänge mit einem Phänomen zu tun, welches entweder klar zu Tage tritt  oder völlig ausbleibt.«

Wilko Lücht, Autor der Ostfriesischen Grammatik

Wer mehr als nur ein paar Wörter Ostfriesisches Platt sprechen möchte, müsste auch das Phänomen der Überlänge ernst nehmen und verstehen. Bei der Pluralbildung, bei den Adjektiven und sogar bei einfachen Grundwörtern spielt Überlänge eine bedeutsame Rolle. Alle Dialekte im Ostfriesischen Platt sind davon betroffen, also wird man diesem Phänomen im Alltag sehr häufig begegnen.

Als ich anfing, Ostfriesisches Platt zu lernen, gab es Kursmaterialien in welchen das Thema der Überlänge überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Einerseits weil die Kursmaterialien nicht aus Ostfriesland kamen, andererseits weil das Thema in den ostfriesischen Lehrwerken überhaupt nicht erwähnt wird. Das Ergebnis: Beim Sprechen fragt man sich warum der Ostfriese viele Wörter so komisch ausspricht bzw. betont.

Deswegen gibt es in diesem Artikel eine Annäherung zum Thema Überlängen. Ich werde erklären was sie sind und wie man damit umgeht. Viele Ostfriesen behaupten die echte ostfriesische Aussprache ist kompliziert und sogar unerklärbar, man kann sie nur als Muttersprache lernen. Damit sind sicher oft auch die Überlängen gemeint, aber vielleicht sind die Überlängen nicht so unmöglich wie sie auf den ersten Blick erscheinen...

Wie funktionieren die Überlängen?

Grundwörter wie Kirche oder Säge enden im Deutschen auf -e. im Niederdeutschen und Niederländischen fällt dieses -e meist weg (e-Apokope). Beim Ostfriesischen Platt passiert aber etwas Besonderes. Hier wird das -e häufig ‘inkorporiert’ durch eine verlängerten Vokal oder durch einen Murmelvokal [ə]. Die ostfriesischen Wörter schreibe ich zunächst in der Weigelt-Schreibweise, weil man in der Schreibweise der Ostfriesischen Landschaft keine Überlängen erkennen kann.

Grundwörter

Bei den langen Vokalen wird der lange Vokal noch etwas länger gezogen. So wird der lange Vokal überlang.

Wenn kurze Vokale der Überlänge unterliegen, so tritt an diese der Murmelvokal [ə] heran (mit Ausnahme des kurzen a).

Wenn Grundwörter der Überlänge unterliegen, so verlieren sie im Plural, in Zusammensetzungen und im Diminutiv ihre Überlänge.


* in Zusammensetzungen bleibt die Überlängung im zweiten Glied erhalten > klapbrüeğ (Klappbrücke).

Ausnahmen: in einigen Fällen bleibt auch im Plural, in zusammengesetzten Wörtern (im ersten Glied!) und im Diminutiv die Überlänge erhalten > poeğ (Frosch) - poegen (Frösche),   poeğje (Fröschlein), rüeğ (Rücken) - rüeğsêr (Rückenschmerzen),  rüeğje (Rücklein).

Pluralbildung

Neben ‘bäin’ und ‘swīn’ bilden sämtliche auf -ld, -md und -nd endenden Substantive ihren Plural durch Überlänge.

Ausnahmen: bild-biller, kind-kinner.

Adjektive

Auch bei einsilbigen Adjektiven tritt dieses Phänomen auf.

Ausnahmen: unbestimmter Artikel + Wort im Neutrum > dat hôğ (hoo__ğ) hūs - aber: 'n hōğ  (hooğ) hūs und wenn das Adjektiv als prädikativ verwendet wird > dat hôğ (hoo__ğ) hūs - aber: dat hūs is hōğ.

Wenn Adjektive gesteigert werden, verlieren sie in der Regel ihre Überlänge im Komparativ und Superlativ.


Wie kann ich mir das merken?

Anhand von zwei Fragen kann man feststellen ob es (1) Überlänge gibt und (2) wie man sie ausspricht.

Frage 1: Wann bzw. wo gibt es Überlängen?

1. Wenn deutschsprachige Substantive oder Adjektive auf -e enden, tritt auf Ostfriesisch Platt in der Regel Überlänge auf.
2. Grundwörter mit Überlänge verlieren meist ihre Überlänge im Plural, in Zusammensetzungen und im Diminutiv. Adjektive mit Überlänge verlieren meist ihre Überlänge wenn sie gesteigert werden.
3. Grundwörter auf -ld, -md und -nd bilden den Plural per Überlänge und Abfall von -d.

Bei vorgenannten Regeln handelt es sich um Faustregeln, d.h. es gibt einige Ausnahmen von den Regeln (siehe oben).

Frage 2: Wie spricht man das aus?

In der Aussprache steigt der Ton und fällt dann am Ende der Artikulation wieder.

1. Kurze Vokale verlängert man mit einem Murmellaut > ə. Wie das e in ‘machen’.
2. Lange Vokale werden einfach verlängert indem man den langen Vokal noch etwas länger zieht.

Wie häufig gibt es Überlänge?

Bei der Frage wie häufig es Überlänge gibt, sollte man weder übertreiben noch untertreiben. Man kann eine ganze Weile Ostfriesisches Platt sprechen, ohne das Überlänge auftritt. Manchmal tauchen die Überlängen mehrmals in einem Satz auf. Sie machen auf jeden Fall den Charakter der Sprache aus.

2016 wurde ‘Mien Krimikum’ von Menno Ufkes Janssen publiziert. Ich habe ein paar Sätze aus seiner Kurzgeschichte ‘Gesunne Slaap’ in die ‘Ostfriesische Schreibweise’ (die Weigelt-Schreibweise) übertragen, denn in der ‘Plattdeutschen Schreibweise’ von Menno Ufkes Janssen erkennt man keine Überlänge. Die Wörter, bei denen Überlängung auftritt, sind markiert.

Ich habe nicht den gesamten Text verwendet um ein Plagiat zu vermeiden. Ich empfehle Ihnen dieses Buch zu kaufen...

Suen slóóp

Dat fenster up däi rüeğsīd fan’t kentōrhūs was up klap. Edo was al däi häiel dağ um dat hūs tau strēken, un dat fenster hār nōit diecht west. Näit bī rēgen, näit bī wind, un as däi en sğīnen dē, natürelk ōk näit. Sō was’t dan ōk. Däi hêğ achter’t hūs hār hum näit ofhollen. Dor was häi licht döörkōmen, bī de ğ fan’t nóóberhūs langs. Twinterğ sentīmēter bot, dat was nauğ föör hum. Dat stróótenlücht was noch ‘n äen hen.

 

Däi hof lağ in d âr fan de hôğ gēvels up bâjd sīd. Man up dat fenster sğēn däi móón, däi sük blōt hen un wērden achter ‘n lütje wuelk ferstopde. Edo hār tīd. Häi töyvde, bit dat fenster wēr in düüstern lağ, sūsde mit sīn liecht sğau up d hūsmüer an un hār in nulkummóniks dat fenster ōpen. Häi stēğ d’r in. Un dan däi trappen anhōğ! Dor sul dat  geldsğap stóón, dat häi nóó sīn mäinen licht ōpen krīgen kun.

Auch bei Personennamen kann Überlänge auftreten: Edo > Äied, Onno > Oen, Tido > Tîd.

Eine Kuriosität

Die Rechtschreibung der Ostfriesischen Landschaft basiert auf den hochdeutschen Rechtschreibregeln. Die Rechtschreibung wurde vom Sprachwissenschaftler Dr. Marron Fort schon ausführlich kritisiert. Ich schreibe an dieser Stelle nur über die Rechtschreibung der Überlänge.

In Punkto Überlänge findet man in der Landschaftschreibweise überhaupt keine Darstellung, als würde es gar keine Überlänge im Ostfriesischen Platt geben. Doch die gibt es. Auch mit den Dialekten lässt sich nicht argumentieren, denn die Überlänge ist in ganz Ostfriesland inklusive des Jeverlandes vorhanden. Nur auf der Insel Borkum ist sie weniger weit verbreitet - denn hier ist das Endungs-e mitunter erhalten - dennoch ist sie auch dort in diversen Wörtern dokumentiert.

In der Ostfriesischen Grammatik (Ostfriesische Landschaft, 2016) steht geschrieben: »Es gilt jedoch zu beachten, dass bei all diesen Substantiven in der Schriftsprache der Plural mit -en gebildet wird.« 


Den Plural auf -en gibt es im Ostfriesischen bei Substantiven auf -ld, -md und -nd bis auf eine Handvoll Ausnahmen nicht (z. B. held-helden, wērld-wērlden, sğüld-sğüllen).

Eine Lösung > didaktischer Versuch

Häufig wird betont, dass man die Überlängen im Ostfriesischen Platt nicht schreiben könnte. Das stimmt nicht, denn seit 1975 gibt es die Weigelt-Schreibweise. Diese Schreibweise gilt aufgrund der vielen Schriftzeichen als recht kompliziert. Aber sie funktioniert einwandfrei für alle ostfriesischen Dialekte! Mit der Weigelt-Schreibweise wäre eine standardisierte Schreibweise für das Ostfriesische Platt möglich.

Anhand von wenigen Regeln könnte man Schülern, Studenten und Kursteilnehmern vermitteln, wie die Überlängen im Ostfriesischen Platt funktionieren. Die Ausnahmen könnte man mündlich erläutern.


Und weiter?

In diesem Artikel wurden nur die wichtigsten Regeln und Ausnahmen erläutert. Ich hätte zum Beispiel auch über die Überlängen bei den Verben schreiben können, aber dieses Phänomen tritt nur in bestimmten Regionen auf. Auf sprachwissenschaftlicher Ebene wurde ausführlicher über das Thema Überlänge berichtet, aber auf didaktischer Ebene findet man so gut wie nichts.

Es wird von einigen Ostfriesen behauptet, dass nur Muttersprachler die Überlängen beherrschen können. Ich hoffe, dass ich diesen Irrtum mit diesem Artikel einigermaßen beseitigt habe. Ich hoffe auch, ich habe mit diesem Artikel habe zeigen können, dass es nicht unheimlich schwer sei, eine didaktische Lösung für die Überlängen zu finden.

Wer mehr zum Thema Überlänge erfahren möchte, kann sich folgende Publikationen ansehen:

1. Lücht, W., 'Zur „Überlänge“ im ostfriesischen Niederdeutsch', in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik (Stuttgart 2013) 153-164.
2. Lücht, W., Ostfriesische Grammatik (Aurich 2016).
3. Feldmann, O., Ōstfräisk Tóóllēr (www.oostfraeisk.org, abgerufen am 30.9.2022).